Überlebensfrage Schwangerschaftskonflikt

„Am Sabbat lehrte Jesus in einer Synagoge. Dort saß eine Frau, die seit 18 Jahren krank war, weil sie von einem Dämon geplagt wurde; ihr Rücken war verkrümmt, und sie konnte nicht mehr aufrecht gehen. Als Jesus sie sah, rief er sie zu sich und sagte: Frau, du bist von deinem Leiden erlöst. Und er legte ihr die Hände auf. Im gleichen Augenblick richtete sie sich auf und pries Gott.“ (Lk 13,10-13)

Diese Stelle im Neuen Testament kommt mir oft in den Sinn, wenn ich Gespräche mit Frauen in meinem Beruf als Beraterin für Frauen in einem Schwangerschaftskonflikt überdenke. Ich erfahre nicht, woran die Frau leidet, was ihren Rücken so krumm gemacht hat. Trotzdem ist spontan ein Verstehen und ein Mitgefühl da. Bilder von Dämonen in Frauenleben tauchen in mir auf: Jüdische Frauen zur Zeit Jesu waren eng auf ihre Rolle als Frau und Mutter festgelegt, waren eingeschränkt durch viele rituelle Vorschriften, die sie für unzählige Gelegenheiten zu beachten hatten. Schwer körperlich arbeiteten sie für die Söhne – vo-rallem für diese – und für die Töchter, stellten für die Familie Nahrung und Kleidung her, oft mit bescheidenen Mitteln. Mir fallen Frauen ein, die sich in Solidarität schwesterlich stützen und helfen, wie Rut und Naomi (Buch Rut) im Alten Testament, aber auch Frauen, die unbarm-herzig und hartherzig sind, wenn eine „aus der Rolle fällt“, wie die Ehebrecherin (Joh 7,53-8,11). Mir fallen Frauen ein, die anderes erstreben als Ehe und Mutterschaft, andere Gaben und Charismen in sich spüren wie Maria aus Magdala (Evangelium nach Maria, apokryph)
Frauen haben durch die Jahrhunderte ihre Fruchtbarkeit und weibliche Attraktivität als Segen und oft auch als Fluch empfunden. Sie wurden – reduziert aufs Gebären – verstoßen, wenn sie unfruchtbar waren. Weil eine andere Fruchtbarkeit als die, die sich in Söhnen und Töchtern ausdrückt, nicht erwünscht war, wurden sie verlacht und nicht ernst genommen. Frauen Kommen mir in den Sinn, die von Männern in der Familie zu Mißbrauch und sexueller Ausbeutung freigegeben wurden (vgl. „Die Schandtat der Männer von Gibea“ Ri 19,1-30).

Alles Geschichten aus längst vergangener Zeit? Ich finde davon vieles heute wieder, wenn ich mich mit Frauen unterhalte und meine eigenen Erfahrungen als Frau überdenke. Abitur machen und studieren? Lohnt sich doch für ein Mädchen nicht – sie wird ja doch „nur“ Hausfrau und Mutter, so hieß es noch in meiner Schulzeit – und ist die erst 35 Jahre her. Welche Mißachtung von Mutterschaft und Sorge um eine Familie! Welche Überheblichkeit von Männern! Welche Abwertung von Frausein!

Vergewaltigung und Zwang, den eigenen Körper zu verkaufen, das gibt es nicht nur in den sogenannten Entwicklungsländern, sondern auch hier bei uns. Frauen aus den ehemaligen GUS-Staaten werden mit Versprechungen auf eine seriöse Tätigkeit angeworben, nach Deutschland gebracht, unter Druck gesetzt, rechtlos gemacht und zur Prostitution gezwungen.

Ungewollte Kinderlosigkeit, ein ganz neues Tabuthema – nicht mehr die Gesellschaft (Familie , nähere und weitere Verwandtschaft) grenzt diese Frauen aus, sondern die Verantwortung und die Ursachen wer-den von Medizinern, mit der Zeit auch von Betroffenen selbst, in ihrem Körper und in ihrer Lebensweise gesucht. Inanspruchnahme von medizinischen Möglichkeiten wie In-vitro-fertilisation gehen oft einher mit einer Einbuße an Selbstachtung , Selbstwertgefühl und Achtung dem Partner gegenüber. Man weiß doch heute, wie Kinder entstehen und hat viele Möglichkeiten „der Natur auf die Sprünge“ zu helfen, wenn es nicht klappt, wer ist schuld?

Noch immer sind Frauen allein wegen ihres Geschlechts von der gleichberechtigten Teilhabe an Ämtern und Entscheidungen in der römisch-katholischen Kirche ausgeschlossen. Respekt und Akzeptanz weiblicher Spiritualität? Gleichberechtigung? Fehlanzeige!

Doch zurück zu unserem Bibeltext: Es ist sicherlich nicht von ungefähr, daß diese Frau in der Synagoge ist, einem Ort von Gebet, Spiritualität und Hoffnung auf Heilwerden und Heilsein. Heilsein an Körper, Geist und Seele. Lebhaft kann ich mir die Hoffnung dieser Frau vorstellen: Endlich wieder mit gradem Rücken und aufrechtem Gang den Menschen begegnen zu können, jenem aufrechten Gang, der Menschen kennzeichnet, die sich in ihrem Körper sicher und zu Hause fühlen. Endlich den Menschen wieder ins Gesicht sehen zu können, das Gegenüber wahrnehmen zu können und selbst ein Gesicht für den anderen Menschen zu bekommen.

Jesus sah diese Frau – nicht aus dem Augenwinkel oder im Vorübergehen. Er sah ihre verkrümmte Gestalt und offensichtlich auch tiefer auf ihre verkrümmte und verletzte Seele. Er läßt sich von ihrem Leid berühren, denn er hatte die Fähigkeit, mit-zuleiden. Auch die Frau spürt anscheinend, daß in dieser Begegnung Heilung für sie liegen kann, denn sie folgt seiner Aufforderung. Jesus berührt die Frau. Diese Berührung stelle ich mir nicht schnell, hektisch und oberflächlich vor, sondern voll liebevoller Aufmerk-samkeit, ähnlich wie eine Mutter, die ihr Kind, das gefallen ist, tröstet. Die weiß, daß in den Arm nehmen, Streicheln, Beruhigen ebenso wichtig sind wie die Behandlung einer körperlichen Verletzung. Die Berührung wirkt tief in der gekrümmten Frau, sie löst die Starrheit des Körpers und auch der Seele. Befreit und erlöst durch die Worte, die Jesus spricht, kann die Frau nicht nur den Körper aufrichten, sondern der aufrechte Gang gibt ihr ihre verlorene Selbstachtung und Würde zurück. Neuer Mut und Schwung für ihr Leben finden ihren Ausdruck im Loben und Preisen und Danken Gottes. Auch das provoziert Jesus: eine neue oder erneuerte Hinwendung zu Gott, die Wahrnehmung Gottes als heilende und aufrichtende Kraft.

Was hat das alles mit Schwangerschaftskonfliktberatung zu tun? Ich finde, im Verhalten Jesu wichtige Elemente einer gelungen menschlichen Begegnung und Beziehung, wie sie auch eine gute Beratung kennzeichnet:
Wertschätzung, mitempfinden können, sich berühren lassen können und selbst berühren, Verletzungen wahrnehmen können und Mut machen.

Wie in der Heilungsgeschichte der Bibel ist die Begegnung zwischen der Beraterin und der ratsuchenden Frau ein kurzer und zeitlich eng eingegrenzt Ausschnitt im Leben beider Gesprächspartnerinnen. Was beiden gemeinsam ist, ist ihr Leben als Frau in einer maßgeblich von Männern über Jahrhunderte entwickelten und dominierten Kultur und Gesellschaft.

Für unser Thema heißt das konkret: Über das Schwangerschaftskonflikt-Gesetz haben mehrheitlich Männer diskutiert und entschieden. Die wortgewaltigsten, fundamentalistischen AbtreibungesgegnerInnen sind überwiegend Männer, wie in zahlreichen Zeitungsartikeln zu lesen und in Fernsehdiskussionen zu sehen war. Die Fachleute, die in unserem Medizinsystem Schwangerenvorsorge betreiben, sind mehrheitlich männliche Gynäkologen. Kaum eine geburtshilfliche Station eines Krankenhauses hat eine weibliche Leitung. Diejenigen, die für das „verabscheuungswürdige Verbrechen“ (Enzyklika „Evangelium vitae“ Über den Wert und die Unantastbarkeit des menschlichen Lebens, Johannes Paul II, 1995) der Abtreibung die Strafe der Exkommunikation verhängt haben, sind Männer.

Unterschiedlich sind die individuellen Lebensdaten der Gesprächspartnerinnen im Beratungsgespräch. Beide bringen ihre je eigenen Einstellungen, Werte, Normen, sozialen, beruflichen und familiären Erfah-rungen mit. Die ratsuchende Frau kommt nicht freiwillig. Sie ist schwanger und hat sich bereits zu einer Abtreibung entschlossen oder ist noch ambivalent. Wenn sie eine Abtreibung durchführen lassen möchte, muß sie nach gesetzlicher Regelung an einer verpflichtenden Beratung – einige benutzen auch den Ausdruck „Zwangsberatung“ – in einer dafür staatlich anerkannten Beratungsstelle teilnehmen.

Das Gespräch selbst ist nicht nur von den Wünschen und Vorstellungen der Beraterin und der Schwangeren bestimmt, sondern hat – wiederum nach gesetzlichen Vorgaben – ein Ziel, nämlich den Schutz des ungeborenen Lebens. Dieses hat nach der Entscheidung des Bundesverfassungsgerichtes in allen Phasen der Schwangerschaft einen eigenen Rechtsanspruch auf Leben auch gegenüber der eigenen Mutter. Auch für die Art und Weise, wie die Beratung ablaufen soll, sieht das Gesetz Regeln vor. „Die nach § 219 des Strafgesetzbuches notwendige Beratung ist ergebnisoffen zu führen. Sie geht von der Verantwortung der Frau aus. Die Beratung soll ermutigen und Verständnis wecken, nicht belehren oder bevormunden. Die Schwangerschaftskonfliktberatung dient dem Schutz des ungeborenen Lebens“ (§ 5 Schwangerschaftskonfliktgesetz).

Die Gesprächssituation ist asymmetrisch, die Person der Ratsuchenden steht ganz im Mittelpunkt des Gespräches, die Beraterin ist diejenige, die das Gespräch führt, strukturiert und Schwerpunkte setzt. In der Praxis kommt oft noch der zeitliche Druck hinzu: Soll der gesetzlich vorgeschriebene Weg eingehalten werden, so ist rechtswidriger aber straffrei gestellter Schwangerschaftsabbruch nur bis zur 12. Woche nach der Empfängnis möglich. Die meisten Frauen sind in der 6. bis 9. Schwangerschaftswoche, wenn sie eine Beratungsstelle aufsu-chen. Davor liegt die Zeit der Wahrnehmung und der Feststellung der Schwangerschaft, der ersten spontanen Impulse und Gefühle, in vielen Fällen auch Gespräche mit Freundinnen, dem Kindesvater oder anderen vertrauten Personen. Die Beraterin ist als Gesprächspartnerin für die Konfliktsituation oft nur eine von vielen. Ihre Wichtigkeit erhält sie dadurch, daß sie eine Bescheinigung ausstellt. Gerade in einer solchen Beratungssituation ist es wichtig, die schwangere Frau – in der Regel kommen die Frauen alleine, Paarberatungen sind eher die Ausnahme – mit den Gedanken, Gefühlen und Widersprüchen, die sie mitbringt, ernst zu nehmen und anzunehmen. Wenn es gelingt, der Frau zu signalisieren: Hier ist Raum, Zeit und Wertschätzung für deine Person, entsteht Vertrauen. Eine Atmosphäre von Offenheit und Nähe, in der es möglich ist, alle Aspekte des Konfliktes anzusprechen, auch die, die bisher noch sprach-los ge-macht haben und un-denk-bar waren. Da ist es wichtig, sich berühren lassen zu können von dem, was der Frau zu schaffen macht, zum Beispiel wenn sie von dem Vater ihres Kindes vor die Alternative gestellt wird: entweder das Kind oder ich. Gemeinsam nach der Bedeutung einer solchen Alternative für die Frau zu suchen, aber auch danach, was dieser Satz über die Partnerschaft aussagt. Sich einlassen zu können auf die Frau ist die Grundlage für die gemeinsame Suche nach Lösungswegen, die für die Schwangere in ih-rer jeweiligen Situation lebbar sind. Sich einlassen können zum Beispiel auf eine andere Sprache, darauf, wie und mit welchen Worten die Frau ihr Kind benennt oder von der Schwangerschaft redet, auf andere Werthaltungen und Vorstellungen von Lebensqualität, auf andere Einstellungen zu Partnerschaft und Sexualität um nur einige zu nennen, ohne jedoch die eigene positive Einstellung zum Leben zu verleugnen.

Oft ist ein Schwangerschaftskonflikt eine zugespitzte Krisensituation, in der sich die Gedanken im Kreis drehen, Panik und Angst vorherrschen und der Blick für andere Lösung als Abbruch der Schwangerschaft verstellt ist. Dann braucht die Ratsuchende ein hohes Maß an Sicherheit, daß dieser Weg in dieser Bera-tungsstelle auch möglich ist und nicht moralisch verworfen wird, um sich überhaupt auf andere Gesichts-punkte des Schwangerschaft einlassen zu können und den verengten Blickwinkel wieder zu weiten. Oft ist es wichtig, Ordnung zu schaffen in den Gedanken, Wichtiges von Unwichtigem zu trennen, Anknüpfungspunkte dafür zu finden, wie die Betroffene ähnlich existentielle Situationen früher bereits bewältigt und ähnlich schwierige Entscheidungen getroffen hat, Ressourcen in der Person selbst und in ihr vertrau-ten Personen zu finden, die neue Kräfte zu mobilisieren. Es ist wichtig herauszufinden, welche Hilfen sie zusätzlich noch braucht, um zu einer Entscheidung zu kommen und diese Entscheidung tragen zu können. Möglicherweise ist es eine Begleitung durch die Schwangerschaft und die Zeit nach der Geburt in allen persönlichen, wirtschaftlichen und sozialen Fragen angesagt. Vorsichtig und behutsam kann sich die Rat suchende Frau mit Hilfe der Vorschläge und Informationen der Beraterin an den bisher von ihr nicht zugelassenen Lösungsweg „Austragen der Schwangerschaft“ herantasten.

Mit Frauen, die eine ambilvalente Einstellung zu ihrer Schwangerschaft mitbringen, kann es wichtig sein, beide Wege – das Austragen des Kindes und den Abbruch der Schwangerschaft – detailliert und genau anzuschauen. Im Vordergrund steht dabei jeweils die Frage, welche Veränderungen die getroffenen Entscheidung im Leben der Frau auf der emotionalen Ebene, auf der partnerschaftlichen Ebene, auf der beruflichen Ebene und auf der persönlichen Ebene mit sich bringt.

Nach meiner Erfahrung ist ein wichtiges Element, an den Vorstellungen der Frau von einem Umgang mit dem Schwangerschaftsabbruch zu arbeiten. Welche Informationen hat sie über das medizinische Gesche-hen? Was möchte sie eventuell noch wissen? Welche Gefühle erwartet sie unmittelbar nach dem Schwangerschaftsabbruch? Wie geht es ihr damit, das ungeborene Kind in sich nicht zum Leben kommen zu lassen? Kann sie sich vorstellen, Trauer oder Verlust zu empfinden oder ist zur Zeit das Gefühl, Pro-blematisches schnell aus der Welt schaffen zu können, vorherrschend? Hat sie Menschen, mit denen sie ihre Gefühle teilen kann? Das sind wichtige und sehr intime Fragen, die jedoch gleichzeitig sehr konfrontativ wirken können. Die Konfrontation liegt dabei im Beratungsthema selbst und kann meines Erachtens nicht vermieden werden. Welchen Raum diese Fragen bekommen, wie weit die Rat Suchende sich davon anrühren läßt und daran weiterdenkt, bestimmt sie alleine.
Es geht in der Schwangerschaftskonfliktberatung um lebenswichtige Fragen, sowohl für die betroffene Frau als auch für das noch ungeborene Kind. „Anwältin“ für die Interessen des Kindes zu sein, ist die zweite wichtige Aufgabe der Beraterin. Das kann sie nur mit der schwangeren Frau zusammen sein – nie gegen sie. Ansatzpunkte im Gespräch sind die eigenen Erfahrungen der schwangeren Frau aus ihrer Herkunftsfamilie und – eventuell – als Mutter bereits vorhandener Kinder, die positiven und negativen Bilder, die die Frau mit ihrem Kind assoziiert, die Vorstellungen und praktischen Erfahrungen von Muttersein in ihrem jeweiligen Umfeld ( engere und weitere Familie, Freundeskreis, Partner, ...)

Damit sind einige Inhalte und Aspekte von Schwangerschaftskonfliktgesprächen genannt. Welche davon zum Schwerpunkt werden, ist abhängig von dem, was die Frau als Problem benennt und von der Bezie-hung, die sich im Gespräch mit der Beraterin entwickelt. Wie in anderen Lebensbereichen auch, kann Beziehung in einer Beratungssituation verschieden gut gelingen und manchmal auch mißlingen. Es gibt kein anderes Kriterium für die Bewertung einer Beratung als der subjektive Eindruck der beiden Personen, die das Gespräch geführt haben. Die Entscheidung der Frau für das Kind kann ein Ergebnis eines guten Beratungsgespräches sein, ebenso wie die Entscheidung zu einem Abbruch der Schwangerschaft. Diese Entscheidung trifft die Frau selbst und keine noch so engagierte Beraterin kann sie stellvertretend für die Frau treffen. Das Kind wächst im Leib der Frau heran, sie bringt es zur Welt und lebt mit ihm zu-sammen, an ihrem Körper geschieht auch der Schwangerschaftsabbruch. Das Beratungsgespräch kann Informationen geben, Wege aufzeigen, verläßliche Wegbegleitung anbieten und auch auf Schwierigkeiten und Konsequenzen aufmerksam machen. Wie wenig und wieviel zugleich!

Ein Beispiel aus der Praxis
Frau F. war am Donnerstag gemeinsam mit ihrem Freund und Kindesvater in der Beratungsstelle um einen Termin für eine Konfliktberatung abzusprechen. Bei dieser Gelegenheit sehe ich sie kurz und erfah-re, daß der Termin für den Schwangerschaftsabbruch bereits für Dienstag festgelegt ist. Da die Kon-fliktberatung kann erst am Montag stattfinden kann, läßt sich der Abbruchstermin nicht einhalten. Trotz-dem stimmt Frau F. dem Termin am Montag zu. Sie meint, sie könne mit ihrem Arzt auch noch einen anderen Abbruchstermin vereinbaren. Am Montag kommt Frau F. allein in die Beratung. Ich gehe hinter ihr die Treppe hinauf und es fällt mir auf, daß Frau F. sehr dünn und sehr groß ist. Mir sind die Worte einer Freundin im Ohr: „Manchmal denke ich, die jungen Mädchen (die Freundin hat eine 17-jährige Tochter) haben heute alle eine Tendenz zur Magersucht.“ Als Frau F. mir im Stuhl gegenüber sitzt, empfinde ich sie von den Gesichtszügen und von ihren Bewegungen her als sehr kindlich. Frau F. ist 19 Jahre alt und Schülerin. Zunächst scheint sie mir sehr entschlossen zum Schwangerschaftsabbruch. Dieser Eindruck revidiert sich im Laufe des Gespräches. Frau F. ist sehr ambivalent und macht sich ihre Entscheidung nicht leicht.
Gründe die für den Schwangerschaftsabbruch sprechen, sind: Frau F. ist in der 12. Klasse und möchte im nächsten Jahr ihr Abitur machen. Eine zeitliche Verschiebung der Prüfung ist von der Schule her möglich, Frau F. möchte jedoch nicht unterbrechen, denn sie befürchtet, daß ihr nach einer Pause und mit Kind die Energie verloren geht, die Prüfung durchzustehen. Frau F. kennt sich als Mädchen (Wortwahl Frau F.), die sich immer nur auf eine Sache konzentrieren kann. Sie kennt ihren Freund, den Vater ihres Kindes, erst seit vier Monaten. Sie sieht weder in ihrer Familie noch in der des Kindesvaters Personen, die die Entscheidung für ein Kind begrüßen und Frau F. unterstützen würden. Ihr Vater, der zur Zeit in Frank-reich lebt und Frau F. finanziell unterstützt, droht damit, den „Geldhahn zuzudrehen“, sollte sich Frau F. für das Kind entscheiden. Frau F. ist noch sehr mit dem Ordnen und Bewältigen ihres eigenen Lebens beschäftigt. Diese Bemerkung macht mich hellhörig. Es stellt sich heraus, daß Frau F. in Frankreich ge-boren ist und dort bis zu ihrem 12. Lebensjahr gewohnt hat. Die letzten beiden Jahre hat sie dort mit ih-rem Vater nach der Scheidung der Eltern allein gelebt. Anläßlich eines Besuches bei ihrer Mutter in Deutschland im Alter von 12 Jahren wurde sie von ihrem Vater telefonisch gebeten, doch besser nicht zu ihm zurückzukommen, sondern bei der Mutter zu bleiben. Für Frau F. kam das wie aus heiterem Himmel, und sie fühlte sich „wie ein Stück Fleisch, das man weghängt“. Frau F.‘s Gesicht verändert sich, als sie das erzählt. Sie wirkt kantiger, so als ob sie die Zähne aufeinander beißt, um Wut oder andere Gefühle zurückzuhalten. Die Bemerkung „wie ein Stück Fleisch, das man weg hängt“, trifft mich und löst Asso-ziationen von Gebraucht-, vielleicht auch Mißbrauchtwerden aus, besonders zusammen mit dem Begriff Fleisch. Ich habe das Bild eines Tieres im Schlachthof vor Augen. Den Schock von Frau F. kann ich gut verstehen und frage nach, wie es ihr damals zumute war. Frau F. fühlte sich doppelt abgelehnt: von der Mutter, der sie sowieso die Schuld an der Trennung der Eltern gegeben hatte und jetzt auch vom Vater, dem sie anscheinend lästig geworden war. Ihre Vermutung ist, daß der Vater die jüngeren Schwestern netter fand. Aus Protest hat sie sehr viele Auseinandersetzungen mit der Mutter geführt und den Kontakt zum Vater aufgegeben. Sie hat sich geweigert, in ihrem Leben noch einmal Französisch zu sprechen, was in der Schule zu vielen Schwierigkeiten führte. Die Bemerkung über die jüngeren Schwestern paßt zu meinem Eindruck eines eventuellen Mißbrauchs. Gleichzeitig empfinde ich sehr stark die Einsamkeit, die aus der Protesthaltung von Frau F. spricht. Gerade bei der beginnenden Pubertät mit ihrem Gefühlschaos verändert sich Frau F.‘s Lebenswelt völlig. Frau F. nickt, als ich ihr meinen Eindruck schildere, daß sie eine sehr einsame Zeit hinter sich hat. Ebenfalls, so vermute ich, als Reaktion auf das Abschieben von Seiten des Vaters entwickelte sich bei Frau F. eine Magersucht, die nach ihren Aussagen vor ca. zwei Jahren lebensgefährliche Ausmaße annahm. Sie kam in ärztliche Behandlung bei einem Arzt, zu dem sie sich von ihrer Mutter „hingeschleppt“ fühlte.

Die Entwicklung der Magersucht verwundert mich nicht. Ich sehe darin den Versuch, Kind bleiben zu wollen, dem Frauwerden aus dem Wege zu gehen, aber auch eine Aggression sich selbst gegenüber, quasi immer weniger zu werden. Diese Gedanken bewegen mich innerlich sehr, sie intensivieren meinen Kontakt zu Frau F., werden aber im Gespräch nicht thematisiert. Seit ungefähr einem halben Jahr hat Frau F. eine eigene Wohnung und versucht, mit ihrem Leben klar zu kommen. Anscheinend hat sie mit der räumlichen Distanz zur Mutter einen Versuch unternommen, eigenständig zu werden und einen Weg gefunden, ihre Lebenserfahrungen zu bewältigen.

Vor vier Monaten lernte sie ihren jetzigen Freund kennen, der auch der Vater ihres Kindes ist. Seine Re-aktion auf die Schwangerschaft war: Ich unterstütze dich, egal wie deine Entscheidung ausfällt. Ich möchte mit dir zusammen bleiben, ich liebe dich. Frau F. vermißte bei dieser Reaktion eine eigenständige Meinung ihres Freundes. Bei den übrigen Familienangehörigen (Bruder, Mutter, Tante, Eltern des Kin-desvaters) kann sie sich an keine positive Reaktion erinnern, im Gegenteil hörte sie nur: Es ist unmöglich in deiner Situation ein Kind zu bekommen, niemand kann es betreuen, es behindert dich bei deiner Schullaufbahn. Lediglich die Mutter ihres Freundes sagte spontan: Wie schön, daß ich Oma werde. Unmittelbar darauf folgten auch von ihr arge Bedenken und die Aussage: Schade, daß das nicht geht. Frau F.‘s erste Reaktion nach dem Schwangerschaftstest war Entsetzen und die spontane Vorstellung: „Das schaffe ich alles nicht. Ich will das Kind nicht.“ Allerdings besagte das Nichtwahrnehmen der Schwangerschaft in den ersten Wochen eher das Gegenteil. Als ich ihr diesen meinen Eindruck schildere, nickt Frau F. und Tränen treten in ihre Augen. Ja, diese Idee hatte sie auch schon einmal, daß sie die Schwangerschaft so lange nicht wahrnehmen wollte, um das Kind „zu retten“. Mich rührt diese Wortwahl und die innere Bewegung von Frau F. Hier geht es um mehr als um das ungeborene Kind, ist mein spontanes Gefühl. Es geht wohl auch darum, das Kind, das Frau F. war oder gerne gewesen wäre, zu retten.

Ich mache Frau F. den Vorschlag, da sie in einer sehr ambivalenten Haltung steckt, beide Seiten, sowohl das Austragen der Schwangerschaft als den Abbruch anzuschauen und zu besprechen. Sie beginnt damit, zunächst das Austragen der Schwangerschaft in den Blick zu nehmen. Sie verbindet mit Schwangerschaft und Geburt positive Dinge: Leben schenken, Aufwachsen miterleben, Spontaneität eines Kindes, ihre fürsorgliche Seite leben zu können. Gleichzeitig fühlt sie sich eingeengt, kann sich kaum vorstellen, daß es mit Kind noch eine Chance für sie gibt, die Ausbildung zu Ende zu machen und zu studieren und sieht viele Fragezeichen. Wir kommen gut ins Gespräch über ihre Vorstellungen von Muttersein und von der Freude ein Kind zu haben. In diesem Teil des Gespräches klingt ihre Stimme sehr warm, und sie wird lebhafter. Ich bin froh und erleichtert, daß diese lebensbejahenden und liebevollen Gefühle für das ungeborene Kind bei Frau F. spürbar werden. Hier ergeben sich viele Anknüpfungspunkte, die Hilfen der Beratungsstelle ins Gespräch zu bringen: Zuverlässige Begleitung während der Schwangerschaft, um die positiven Gefühle zu verstärken und weitere Ressourcen und Kräfte zu mobilisieren, eventuelle Gespräche mit der Mutter oder der Familie ob und welche Hilfen von dieser Seite möglich sind, die Beantragung finanzieller Hilfen für notwendige Anschaffungen im Zusammenhang mit der Ausstattung des Kindes, wenn nötig Hilfen bei Wohnungssuche und Einrichtung, Möglichkeiten der Kinderbetreuung nach der Geburt, Hinweise auf Hilfen des Jugendamtes bei Erziehungsfragen, Hilfen bei der Absicherung des Lebensunterhalts und anderes mehr.

Mit Schwangerschaftsabbruch verbindet Frau F.: „Jemandem das Leben nehmen“, einen Eingriff in ihre körperliche Integrität. Wörtlich sagt sie: „Schwangerschaftsabbruch, so wie der Arzt mir das erklärt hat, kommt mir fast vor wie Vergewaltigung.“ Dabei hält Frau F. schützend ihre Hände und ihre Jacke vor ihren Bauch. Eine Bewegung, die so deutlich ist, daß ich sie nicht übersehen kann. Die Assoziation Schwangerschaftsabbruch gleich Vergewaltigung löst bei Frau F. einen Tränenstrom aus. Das Schluchzen endet mit dem Satz: „Eigentlich möchte ich mir das nicht antun.“ Es braucht eine Zeit bis sich Frau F. wieder beruhigen kann und Vorstellungen entwickelt, wie es ihr nach einem Schwangerschaftsabbruch gehen würde. Sie hat Angst vor Unfruchtbarkeit. Die Vorstellung, niemals mehr ein Kind bekommen zu können, empfindet sie als großen Verlust für ihr Leben. Sie meint, daß es ihr große Schwierigkeiten be-reiten würde, mit der Schuld zu leben, das Kind wäre nicht zu seinem Recht gekommen. Sie kennt aus ihrer Vergangenheit „schlimme Situationen“, die ihr lange nachgegangen sind und mit denen sie nicht fertig werden kann. Ich verstehe Frau F.‘s hohe emotionale Betroffenheit als ein wichtiges Alarmsignal ihrer Seele. Sie nimmt das ebenfalls deutlich wahr. Es gelingt uns, im Gespräch noch eine Weile bei ihren Ängsten zu bleiben und bei Möglichkeiten mit Schuld zu leben.

Frau F. hat noch sachliche Fragen zur Kostenübernahme für den Schwangerschaftsabbruch und zur Beratungsbescheinigung. Dazu bekommt sie die nötigen Informationen. Ich frage sie, ob sie die Beratungsbescheinigung jetzt mitnehmen oder später abholen möchte. Frau F. kann sich nicht so schnell entscheiden, darin wird für mich noch einmal ihre Ambivalenz deutlich. Schließlich nimmt sie die Beratungsbescheinigung mit, mit der Begründung: „Schon alleine, weil ich alle diese Dinge sammeln möchte.“ Das ist eine Bemerkung, die mich verblüfft und im Nachhinein nachdenklich macht.

Zum Schluß des Gespräches fasse ich noch einmal die Hilfsmöglichkeiten der Beratungsstelle zusammen und lege Frau F. nahe, in den drei Tagen, die vor einem eventuellen Abbruch liegen, die Gedanken, die zu diesem Thema in ihr aufsteigen, nicht zu übergehen, sondern sie ernst zunehmen und sich damit zu beschäftigen. Für den Fall, daß sie dabei noch ein Gespräch wünscht, biete ich ihr kurzfristig einen Termin an. Frau F. verläßt die Beratungsstelle mit der Bemerkung, das Gespräch sei für sie wichtig gewesen. Sie habe das Gefühl, verstanden zu werden und akzeptiert zu sein. Sie fragt eher schüchtern an, ob sie anrufen könne, um mir die Entscheidung mitzuteilen. Das kann sie natürlich gerne tun.

Beim Nachdenken über dieses Gespräch habe ich noch Frau F.‘s kindliches Gesicht vor mir. Ich sehe beide Seiten: Die Entscheidung für das Kind stellt für Frau F. eine große Herausforderung, eventuell auch Überforderung dar. Sie braucht sicher viel Hilfe und Rückenstärkung. Genau dafür stehen die Chancen in ihrem Leben eher schlecht, denn es fehlt in ihrer Familie an einer positiven Einstellung. Ich befürchte, daß Frau F. sich oft rechtfertigen muß und daß besonders in der Zeit, in der ein Abbruch noch möglich ist, viel Druck auf sie ausgeübt wird. Sie ist aufgrund ihrer Lebensgeschichte, ihres Alters und ihrer derzeiti-gen Situation sehr labil. Wird sie dem Druck standhalten können? Bin ich intensiv genug auf dieses Problem eingegangen? Hätte ich noch andere Hilfen aufzeigen können oder müssen? Gleichzeitig kann die Entscheidung für das Kind für Frau F. ein gewichtiger Schritt zum Selbständigwerden sein und die Übernahme von Verantwortung für das eigene Leben fördern. Die andere Seite: Ein Schwangerschaftsabbruch wäre bei Frau F.‘s Einstellung gewiß eine (weitere) Traumatisierung, wenn ich an den Vergleich mit Vergewaltigung denke. Der Umgang mit der Schuld, Leben verhindert zu haben, kann eine weitere von Schmerz und Trauer geprägte Erfahrung für Frau F. sein. Er kann aber auch Anstoß geben, die anderen schlimmen Situationen, von denen Frau F. sprach, in einer Therapie zu bearbeiten, um sich so die verschütteten Teile ihrer Lebensgeschichte wieder zugänglich zu machen. Resultat meiner Überlegungen: Ich nehme sehr viel Nähe und „mütterlichen“ Gefühlen für Frau F. bei mir selbst wahr und stelle – wie jede Mutter – fest, daß Kinder für ihr eigenes Leben selbst die Entscheidung fällen müssen.

Frau F. ruft zwei Tage später an. Sie hat noch einmal lange Gespräche mit ihrem Freund und ihrer Mutter geführt und auch selbst nachgedacht. Der Frauenarzt habe „gemeckert“, daß sie überhaupt so lange über-legt hat. Sie hat sich für den Schwangerschaftsabbruch entschieden. Ausschlaggebend war das Gefühl: Wenn ich Ordnung in mein Leben bringen will, kann ich nicht jetzt wieder alles durcheinanderbringen. Frau F.‘s Gefühle bei diesem Telefonat sind einerseits Angst vor dem, was auf sie zukommt, und zugleich Erleichterung, eine Entscheidung getroffen zu haben.

Was macht es Frauen heute schwer, sich für ein Kind zu entscheiden?
Neben der je persönlichen Lebensgeschichte sind eine Reihe von Gesichtspunkten zu nennen, die die Lebensbedingungen von Frauen in gesellschaftlicher, beruflicher und sozialer Hinsicht prägen und Einfluß haben auf die Entscheidung einer Frau für oder gegen ein (weiteres) Kind. In einer Gesellschaft mit einer Pluralität an Normen und Wertvorstellungen haben sich Frauen gerade in den letzten dreißig Jahren für gleichberechtigte Teilhabe im politischen und beruflichen Leben eingesetzt und einiges erreicht. Eine fundierte Schul- und Berufsausbildung führt zu längeren Ausbildungszeiten. Mehr Frauen leisten dadurch qualifizierte Arbeit.

Damit verändert sich der Stellenwert der Mutterschaft in einem Frauenleben. Beides – Familie und Beruf – leben zu können, ist jedoch (immer noch) primär Aufgabe und Interesse der Frau. Die Beteiligung der Väter an der Familienarbeit ist weiterhin gering. So nehmen zum Beispiel nur 1,5 % der Väter den Erziehungsurlaub in Anspruch. Als ein wichtiges Argument benennen sie den daraus resultierenden „Karriereknick“ und verpaßte Anschlüsse bei der beruflichen Weiterbildung. Beides gilt für Frauen in qualifizierten Berufen gleichermaßen. Oft gibt es nur die Alternative Karriere oder Familie. Frauen, die beides zu vereinbaren suchen, müssen bei der Betreuung der Kinder oft auf private Lösungen zurückgreifen: Das sind oft Verwandte oder Tagesmütter, die die Kinder betreuen, denn Krippenplätze für Kinder unter drei Jahren sind nicht in ausreichendem Maße vorhanden. Im Bewußtsein der Öffentlichkeit hat eine Frau, die ihr kleines Kind nicht selbst betreut, oft noch den Ruf einer Rabenmutter, unabhängig von der Qualität der Kinderbetreuung, auch unabhängig davon, wie zufriedenstellend und glücklich von der Mutter selbst die Zeit, die sie ihrem Kind widmet, empfunden wird. Muttersein wird oft noch mit einem Verzicht auf eigene Interessen und einer hohen „Opferbereitschaft“ für Familie und Haushalt verbunden. Die Berufe Hausfrau und Mutter selbst haben kein hohes Ansehen in unserer Gesellschaft. Nicht zuletzt, weil sie unentgeltlich geleistet werden. Gestützt wird ein solches Bild durch Unter-suchungen, in denen monokausal die Erziehung – natürlich zum allergrößten Teil durch die Mutter – für Verhaltensauffälligkeiten, Schulversagen, Aggressivität von Kindern verantwortlich gemacht wird.

Das große Angebot an Konsumartikeln, die eine optimale Förderung von Kindern versprechen, bringt gleichzeitig den Zwang zur Auswahl und damit Überlegungen und Entscheidungen über die Qualität des Angebots mit sich. Dies gilt für Spielzeug für Kleinkinder ebenso wie für den Einsatz von elektronischer Unterhaltung für Jugendliche. Mit beiden haben Eltern in ihrer Kindheit und Jugend kaum Erfahrung sammeln können. Dadurch sind sie in ihrer Erziehungsverantwortung stark gefordert und empfinden Erziehung vermehrt als Last. So geraten die positiven Seiten des Zusammenlebens mit Kindern oft aus dem Blick.

Die Trennung von Fruchtbarkeit und Sexualität durch nahezu sichere Verhütungsmethoden und die Mög-lichkeit, den Zeitpunkt für ein Kind selbst zu bestimmen, ist für Frauen aus ihrem Leben nicht mehr wegzudenken. Sie verführt jedoch dazu, den vitalen Lebensprozeß Schwangerschaft für planbar und machbar zu halten. Ungeplante und ungewollte Schwangerschaften passieren jedoch oft trotz Verhütung. Fast ist es so, als sollten wir daran erinnert werden, daß gerade so schöpferische weibliche Potenzen wie Schwangerschaft und Geburt trotz aller medizinischen Kenntnisse eigen-willig sind und sich der Planbarkeit entziehen. Dem Sinn solcher ungeplanten Schwangerschaften auf dem eigenen Lebensweg nachzugehen, kann eine spannende Suche nach nicht wahrgenommenen oder nicht gelebten weiblichen Möglichkeiten sein.

Berufstätige Frauen, die sich zu einem Kind entschließen und voraussichtlich alleinerziehende Mutter sein werden, müssen sich für die Zeit des Erziehungsurlaubs auf ein Leben mit Sozialhilfe, das heißt auf ein Leben an der Grenze zur Armut, einstellen. Es gibt keine andere Möglichkeit, den Lebensunterhalt für sich und das Kind in dieser Zeit zu bestreiten. Dazu gehört, daß eine eventuelle Eigentumswohnung oder ein PKW oder sonstige Besitztümer zunächst verkauft, der Gewinn zum Lebensunterhalt eingesetzt und angesparte Lebensversicherungen oder Sparguthaben bis auf ein geringes Schonvermögen aufgebraucht werden müssen. Nach drei Jahren Erziehungsurlaub ist auf diese Weise aus einer Frau mit gutem Einkommen eine arme Familie geworden. Wenn für die Fahrt zum Arbeitsplatz und zur Kindertagesstätte wieder ein Auto notwendig ist, dann muß sie zunächst Schulden machen. Die wenigen politischen Bemü-hungen, für alleinerziehende, berufstätige Frauen im Erziehungsurlaub eine andere finanzielle Absicherung zu schaffen, sind bisher am Desinteresse und/oder an mangelnden Finanzierungsmöglichkeiten gescheitert. Hier müßte die Kirche Lobbyarbeit im Sinne des Schutzes für das ungeborene Leben leisten!

Viele Frauen stellen fest, daß die Kindesväter sich der Verantwortung für ihre Kinder besonders in finan-zieller Hinsicht entziehen. Schon in einem Schwangerschaftskonflikt heißt es oft: Du mußt das entschei-den. Du bringst das Kind schließlich zur Welt. Ich will dir keine Vorschriften machen und dich zu nichts überreden. Ganz offensichtlich ist damit auch gemeint: Du als Mutter bist allein verantwortlich. Nur ganz wenige Frauen empfinden eine solche Einstellung als Ermutigung für eine selbständige Entscheidung. Die überwiegende Mehrheit fühlt sich allein gelassen sowohl in emotionaler als auch in wirtschaftlicher Hin-sicht. Zwar gibt es Gesetze, die schon in der Schwangerschaft festlegen, daß sich der werdende Vater an den Kosten für die anstehende Erstausstattung zu beteiligen und auch zum Lebensunterhalt der schwangeren Frau beizutragen hat. Doch die Durchsetzung dieser Pflichten ist oft nur durch rechtliche Schritte möglich. In vielen Fällen gilt das auch für den Kindesunterhalt nach der Geburt des Kindes. Die Taktik reicht von der Verschleppung von Zahlungen bis zum Verschweigen von Einkünften. Ohne finanzielle Sicherheiten wird es für Frauen schwer, das Alltagsleben mit Kind zu organisieren. Wie kann man da erwarten, daß Mütter bereitwillig und verständnisvoll den gesetzlichen Forderungen auf Umgang zwischen Vater und Kind nachkommen. Müttern in dieser Situation ist die Neuregelung des Kind-schaftsrechts von 1997 verständlicherweise ein Dorn im Auge.

Der Schwangerschaftskonflikt der katholischen Kirche.
Einen Konflikt mit der Schwangerschaft haben jedoch nicht nur viele Frauen, sondern auch die römisch-katholische Kirche in Deutschland. In ihrem Schwangerschaftskonflikt geht es „Mutter Kirche“ wie man-chen Frauen. Es gibt einen Wunsch, das „Kind Konfliktberatung“ auszutragen und leben zu lassen. Doch der Vater im weit entfernten Rom drängt auf Abtreibung des ungeliebten Sprößlings: Er verdunkele die unbefleckte Weste der Mutter Kirche, wenn ein Schein ausgestellt werde, der ein Gespräch mit einer Frau zum Schutz des ungeborenen Lebens bestätigt. Nach einem langen Prozeß des Nachdenkens über die schwierige Situation tut „Mutter Kirche“ das, was viele Frauen auch tun: Sie gibt dem Druck nach, kann sich das Wohlwollen des Vaters nicht verscherzen, legt die Verantwortung für die Abtreibung in die Hände des Patriarchen und beruhigt das eigene Gewissen mit – ja, womit eigentlich? Mit dem Gehorsam, den sie dem Papst versprochen hat? Ist sie aus dem Schneider, wenn sie sagt: Der Vater wird’s schon richtig machen? Darf ein Vater so etwas verlangen? Wer stärkt der Mutter den Rücken? Wie kann das Kind weiterleben? Zur Zeit deutet sich die Lösung „Leihmutterschaft“ an. Töchter und Söhne von Mutter Kirche, die sich weniger dem fernen Vater als dem eigenen Gewissen und der Hilfe für Frauen in Konfliktsituationen verpflichtet fühlen, schaffen Lebensperspektiven für das „Kind Konfliktberatung“. Zwei Vereine sind gegründet worden, die es sich zur Aufgabe machen wollen, Schwangerschaftskonfliktberatung durchzuführen. Der Verein Frauenwürde e.V. wurde 1998 gegründet, als sich die jetzige Entwicklung sich anbahnte. Der Verein will nicht nur Beratungsstellen betreiben, sondern auch die Würde von Frauen auf allen innerkirchlichen Ebenen zur Sprache bringen und einfordern. Mit einigen Bundesländern werden bereits Verhandlungen über Finanzierung und Einrichtung von Beratungsstellen geführt. Aus den Reihen des Zentralkomitees der deutschen Katholiken (ZdK) hat sich ein anderer Verein mit dem Namen Donum vitae (Geschenk des Lebens) gegründet. Seine Gründungsmitglieder betonen ausdrücklich, der Verein sei nicht gegen die amtskirchliche Hierarchie gerichtet. Bei Donum vitae wird an einem Konzept der Schwangerschaftskonfliktberatung und deren Finanzierung gearbeitet. Vermutlich werden die Beratungsstellen dieses Vereins mit dem von der Deutschen Bischofskonferenz in Lingen im Frühjahr 1999 vorgestellten Konzept des Beratungs- und Hilfeplans arbeiten. Inhalte dieses Plans sind die Hilfsangebote, die eine Beraterin gemeinsam mit der Frau bespricht. Zur Verdeutlichung der Position der katholischen Kirche enthält diese Bescheinigung den Zusatz: Die Aushändigung dieses Nachweises bedeutet keinerlei Akzeptanz eines Schwangerschaftsabbruchs. Dieser Satz wird wohl der Stolperstein für eine Zusammenarbeit der beiden Vereine Donum vitae und Frauenwürde sein. Denn nach Meinung der Mitglieder von Frauenwürde e.V. scheint hier das gleiche fragwürdige Bild von Frauen durch, wie wir es aus bischöflichen und päpstlichen Äußerungen kennen. Es wird Frauen nicht zugetraut, eigenständig und gewissenhaft in einer schwierigen Lebenssituation eine verantwortliche Entscheidung zu treffen, ohne ihnen deutlich zu sagen, wie sie zu entscheiden haben.

Autorin: Ulla Beckers, 47 Jahre, verheiratet, drei Kinder, Dipl.-Päd.,
seit 1993 Konfliktberaterin in einer katholischen Beratungsstelle,
Gründungsfrau bei Frauenwürde e.V.


Der Artikel ist erschienen in: Kathrin Althans, Inken Mädler, Babara Schoppelreich (Hrsg.) Inmitten von Lust und Last – Frauenalltag und Religiosität, München 2000